Cover
Titel
Maria Grollmuß 1896–1944. Biografische Annäherung und Erinnerungsnarrative


Autor(en)
Sack, Birgit
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
644 S., 67 Abb.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maren Hachmeister, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V., Technische Universität Dresden

Die Lebensgeschichte der promovierten Historikerin Maria Grollmuß (1896–1944) wurde bisher entlang von drei Narrativen erzählt, die sie als antifaschistische Widerstandskämpferin, christliche Märtyrerin oder sorbische Patriotin stilisierten. Birgit Sack legt nun die erste wissenschaftliche Biografie über Maria Grollmuß vor, die vor allem deshalb für Aufsehen sorgen wird, weil sie diese etablierten Narrative „begradigen“ will (S. 567).

Anders als frühere Darstellungen widmet sich diese Biografie dem gesamten Lebensverlauf von Maria Grollmuß und schließt eine kritische Reflexion der drei bisherigen Erinnerungsnarrative an. In ihnen steht stark verkürzend der NS-Widerstand von Maria Grollmuß im Mittelpunkt. Im Gegensatz zu diesen interessengeleiteten Vereinnahmungen, die vor allem in DDR-Geschichtsschreibung sowie sorbisch-katholischer Heimatkunde der Domowina zu finden sind, bemüht sich Birgit Sack um eine unvoreingenommene Biografie, deren dreizehn Kapitel chronologisch und „quellenbasiert“ (S. 11) von der Kindheit bis zum Tod reichen. Besonderes Augenmerk legt sie in der ersten Hälfte des Buches auf den politischen Werdegang der Erwachsenen Maria Grollmuß. Sie porträtiert diese als leidenschaftlich politische junge Frau, die sogar die Hühnerschar im ländlichen Elternhaus in Radibor (Oberlausitz) nach Politikern benannte (S. 173) und gern öffentlich für ihre Überzeugungen eintrat. Auch wenn Sack ihre Handlungsspielräume allgemein als „eng begrenzt“ (S. 352) einschätzt, habe Maria Grollmuß durch ihre publizistischen Aktivitäten „zu den wenigen parteipolitisch aktiven jungen Katholikinnen“ (S. 111) gehört und sei sogar „als Repräsentantin ihrer Generation öffentlich wahrgenommen“ worden (ebd.). In ihrem Studium an der Universität Leipzig belegte sie ihren Neigungen entsprechend Kurse in Geschichte, Philosophie, Psychologie sowie Deutsch und Französisch. Ihre Dissertationsschrift rief bei den Gutachtern angeblich so „konträre Auffassungen“ (S. 92) hervor, dass sich ihr Promotionsverfahren über Jahre hinzog – Jahre, in denen ihr Selbstverständnis vom republikanischen zu dem einer Kommunistin umschlug (S. 90).

Insgesamt engagierte sich Maria Grollmuß in fünf verschiedenen Parteien (Zentrum, SPD, KPD, KPD-O, SAP). Dass sie in keiner dieser Parteien je exponierte parteipolitische Funktionen einnahm, will Birgit Sack nicht auf geschlechtsspezifische Rollenbilder zurückführen. Maria Grollmuß war in bestimmten Gesprächsrunden als „eigenständig denkende Intellektuelle“ (S. 117) sogar sehr gefragt. Statt selbst politische Ämter anzustreben, sah sie hingegen „das Agieren von außen [...] als ihr wesensgemäß“ an (S. 114). Diesen Umstand nennt Birgit Sack als einen Hauptgrund für die schwierige Quellenbasis der vorliegenden Biografie. Mit Blick auf die wechselnden Parteimitgliedschaften gelingt es ihr dennoch eindrucksvoll zu zeigen, dass sich Maria Grollmuß nicht in ein eindimensionales (politisches) Selbstverständnis pressen ließ. Folglich blieb sie in politischer Hinsicht oft Oppositionelle „wider Willen“ in ihrer jeweiligen Partei (S. 573) sowie auch in religiöser Hinsicht zeitlebens eine „Suchende“ (S. 415).

Ausgesprochen lesenswert ist in diesem Zusammenhang das sechste Kapitel, in dem Birgit Sack die „konspirativen Wege“ offenlegt, auf denen Maria Grollmuß – zumal als Intellektuelle aus katholisch-bürgerlichem Elternhaus – versuchte, Ende der 1920er-Jahre Anschluss in der KPD zu finden. Lebensgeschichtlich ist diese Zeit bedeutsam, weil sich Maria Grollmuß von ihrem Freundeskreis distanzierte, ins „Rote Berlin“ (S. 203) umzog und sich dort unter prekären Bedingungen mit Aushilfstätigkeiten, zum Beispiel als „Springerin“ (S. 204) an Schulen, als Volontärin in einer Redaktion und als Praktikantin im Arbeitsamt, mühsam allein über Wasser hielt. Darüber hinaus weist dieses Kapitel nach, wie weit sie für ihre politischen Überzeugungen zu gehen bereit war: Zum Schein trat sie in die SPD ein, um für die KPD Verbandsinterna des sozialdemokratisch geprägten Deutschen Metallarbeiterverbands auszuspionieren (S. 203). Auch wenn sich Birgit Sack gegen vereinfachende Darstellungen von Maria Grollmuß als einziger Frau unter Männern wehrt, deuten einige Zitate auf ihren außergewöhnlichen Mut hin, sich in Männerdomänen zu behaupten. In einem Brief an ihren langjährigen Weggefährten Hermann Kopf (1901–1991) berichtete Maria Grollmuß beispielsweise, sie habe in ihrer konspirativen Funktion für die KPD „die halbe Nacht mit den roten Betriebsräten vom Siemens-Konzern gesoffen“ (S. 230). Es sind maßgeblich Briefe an Hermann Kopf, die es Birgit Sack ermöglichen, diesen bislang völlig unbekannten Lebensabschnitt von Maria Grollmuß biografisch zu erschließen.

Allgemein ist festzuhalten, dass große Teile des Buches auf Briefwechseln mit Weggefährten beruhen, neben Hermann Kopf waren das Max Seydewitz (1892–1987) oder Hermann Reinmuth (1902–1942). Sie enthalten nur wenig Information über Alltägliches und geben vielmehr metabiografisch Auskunft über das politische Denken von Maria Grollmuß. Jenseits ihrer „Ikonisierung“ (S. 567) als antifaschistische Widerstandskämpferin wird so beispielsweise sichtbar, dass sich Maria Grollmuß eine gemeinschaftsgebundene und staatsorientierte Demokratie wünschte, die sie als „totalitäre Demokratie“ (S. 98) bezeichnete. Auch wenn sie diese klar gegen rechte autoritäre Regime abgrenzte, war sie laut Birgit Sack „in wesentlichen Aspekten nicht mit den Grundprinzipien einer repräsentativen Demokratie vereinbar“ (S. 24).

Dieser Lebensabschnitt von Maria Grollmuß ist nicht nur äußert spannend zu lesen, sondern bietet auch Anknüpfungspunkte für eine jüngere Leserschaft, die sich heute mit prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen, politischem Aktivismus, dem Wunsch nach Veränderung sowie Fragen von Zugehörigkeit und Zukunft auseinandersetzt. Zeitlos kompatibel scheint hier eine Aussage der Volontärin Maria Grollmuß: „einen vernünftigen Gedanken, was eigentlich aus mir werden soll, hat keiner. – Warum ich da bin, weiß auch keiner. Ich bin eben da“ (S. 191). Dies ist nur ein Beispiel von vielen, mit dem es Birgit Sack gelingt, Ambivalenz, Vielschichtigkeit und Ambiguität in der Lebensgeschichte von Maria Grollmuß aufzuzeigen. Kaum überraschen würde es allerdings, wenn diejenigen „gesellschaftlichen Großgruppen“ (S. 481, S. 548), die Maria Grollmuß in den vergangenen Jahrzehnten für sich zu vereinnahmen suchten, von dieser wissenschaftlichen Ausdifferenzierung weniger begeistert wären.

Die zweite Hälfte des Buches widmet sich ausführlich den Themen NS-Widerstand, dem Prozess gegen sie und der Inhaftierung von Maria Grollmuß. Infolge der nationalsozialistischen Machtübernahme bildete sich um Maria Grollmuß und Hermann Reinmuth, die beide publizistisch für die „Roten Blätter“ (S. 311) tätig waren, ein kleines „Ad-hoc-Netzwerk“ (S. 322), das sich humanitär für politisch Verfolgte und ihre Angehörigen einsetzte. Zu den Aktivitäten zählten das Sammeln von Geldspenden, Fürsprache für Inhaftierte oder auch Fluchthilfe. Im November 1934 wurden beide wegen Hochverrats verhaftet. Maria Grollmuß wurde zu einer sechsjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, die sie im Frauenzuchthaus Waldheim verbüßte (1935–1941). Anschließend wurde sie ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert, wo sie 1944 im Alter von nur 48 Jahren an einer Bauchfellentzündung starb.

Trotz schwieriger Quellenlage nähert sich Birgit Sack dem Hafterleben von Maria Grollmuß an, teilweise über Briefwechsel mit ihrer Schwester Cäcilia Grollmuß (1898–1974), hauptsächlich über Erinnerungsberichte von Überlebenden. Gerade weil sich Birgit Sack schon in früheren Arbeiten mit Biografien von Häftlingen im Frauenzuchthaus Waldheim (2016) sowie allgemeiner mit dem Widerstandshandeln von Frauen gegen das NS-Regime (2022) befasst hat, ist die Genauigkeit zu würdigen, mit der sie die Quellen zu Maria Grollmuß angeht. Nachhaltig beeindruckt vor allem ihre Rekonstruktion von freundschaftlichen Kontakten zu tschechischen und polnischen Mitgefangenen, bei gleichzeitiger Dekonstrukution des Narrativs, Maria Grollmuß sei „‚vor allem‘ als Sorbin verurteilt worden“ (S. 421). Dieser Befund dürfte einige öffentliche Beachtung finden und steht dabei nur exemplarisch für eine das gesamte Buch kennzeichnende sorgfältige Quellenkritik.

Auch wenn Birgit Sack aufgrund der lückenhaften Quellenlage noch im letzten Satz zurückhaltend betont, dass es sich lediglich um eine „biografische Annäherung“ (S. 575) handeln könne, legt sie ein sehr umfangreiches Buch von über 600 Seiten vor. Leider ist vor allem der bisher weniger bekannte erste Teil der Biografie sehr deskriptiv geraten und nur schwer zugänglich. Zwischenfazits, Reduktion und mehr Leserführung wären hier wünschenswert gewesen. Ihrem Anspruch, etablierten Vereinnahmungen von Maria Grollmuß eine wissenschaftliche Biografie entgegenzusetzen, wird Birgit Sack insgesamt mehr als gerecht. Ihre Annahme, sie könne mit dieser Biografie eine „jüngere Biografieforschung“ (S. 23) vorantreiben, nur weil es sich um die Biografie einer Frau handelt, wirft jedoch Fragen auf. Ebenso fraglich bleibt, ob sich Birgit Sacks Hoffnung erfüllen kann, dass dieses Buch dazu beiträgt „die sorbische Minderheit [...] außerhalb Sachsens bekannter zu machen“ (S. 644). Alles in allem liefert Birgit Sack ein beeindruckendes, in jeder Hinsicht informatives Buch, das beim Lesen allerdings einiges Durchhaltevermögen voraussetzt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension